Es ist schön und hässlich zugleich, inspirierend und einschüchternd, kriminell und gleichzeitig friedliches Zu- hause für tausende Tauben. Das Kottbusser Tor, auch liebevoll der Kotti, ist wohl eher ungewollt zu einem der populärsten Orte Berlins geworden und weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Aber warum eigentlich? „Mutmaßliche Anführer einer Dealerbande vom Kottbusser Tor in Berlin gefasst“1 titelt der Tagesspiegel im Januar diesen Jahres. In der BZ heißt es bereits im September 2016: „Tödliche Schüsse am Kottbusser Tor: Polizei fahndet nach Intensivtäter“2. Es ist die Architektur, dessen Räume all das zulassen: dunkle Ecken, ver- steckte Räume, Fluchtmöglichkeiten und Anonymität. Was die meisten Berliner*innen meiden ist Dreh- und Angelpunkt vieler Kreuzberger Bewohner*innen: Das Kottbusser Tor versteht sich als Zentrum des SO36 - abgeleitet vom ehemaligen südöstlichen Postzustellbezirk - und beherbergt die unterschiedlichsten Nutzungen vom täglichen Bedarf über Szene Bar bis zur interkulturellen Stadtbibliothek.
Mulitdimensionale Straßenkämpfe
An dieser Vielfalt an Nutzungen lässt sich bereits ablesen, was beim Besuch dieses Ortes offensichtlich wird: Ein gewaltiges Stück Stadt voller Widersprüchlichkeiten. Schade ist, dass es dieses Stück Berlin selten in den ernst gemeinten Architekturdiskurs schafft, dafür umso mehr in den sicherheits- und stadtpolitischen Diskurs. Die platzartige Struktur, dominiert von Individualverkehr, Hochbahn und mächtiger Großstruktur, ist längst Aus- handlungsort verschiedener Straßenkämpfe unterschiedlichen Maßstabs geworden: Fahradkuriere warten vor Szene Restaurants, während Touris am Photoautomat Halt machen. Berufspendler*innen wechseln zwischen der Methadonausgabestelle das Gleis. Der Dealer reiht sich an den Obststand - beide haben moderate Öff- nungszeiten. Initiativen wie „Kotti&Co“ gelten als Vorboten der heutigen Vergesellschaftungsdebatte rund um die Berliner Wohnraumpolitik. Womöglich ist der Kotti noch einer der wenigen Orte, an denen wir das spüren können, was Berlin Berlin werden lässt: Das Wilde, Verruchte, Ungezwungene, Unkontrollierbare, Dreckige - ganz nach Wowereit: „Arm, aber sexy“3.
Abbild Berlins?
Für mich ist das Kottbusser Tor vieles: Der Ort zum ausgehen und tanzen, einkaufen, entkommen und heim-
kommen, aber auch der Ort, an dem Elend und Freude der Stadt vielleicht am offensichtlichsten zutage geführt werden. Bei all der Romantisierung darf nicht unerwähnt bleiben, dass hier selten viele Schicksale aufeinan- dertreffen. Möglicherweise kann ich nur so über den Kotti sprechen weil ich als Zugezogene genau das suche, was ich dort finde. Ganz bestimmt aber weil ich dem Elend auf meinem Weg nachhause ins bürgerlichere SO36 Richtung Kanal entfliehen kann, wo sich bei Weitem nicht so viel tummelt. Am Ende stellt sich die Fra- ge: Leben wir nicht alle genau aus diesem Grund gemeinsam in der Stadt? Wir können nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Es ist immer und überall zu voll, aber so ganz ohne Menschen? Wir erinnern uns an leer gefegte Straßenzüge zu harten Lockdown Zeiten und das möchten wir auch nicht. Hat also nicht (fast) alles seine Daseinsberechtigung im chaotischen, durchmischten Stadtgeflecht? Daher fordere ich die radikale Akzeptanz dieser Un-Orte als fester Bestandteil des wahren Berlins über den Ruf als kriminelles Territorium hinaus.
Quellen
1 Mutmaßliche Anführer einer Dealerbande vom Kottbusser Tor in Berlin gefasst. (26.01.2022). Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/berlin/100-000-euro-und-kiloweise-drogen-mutmassliche-anfuehrer-einer-dealerbande-vom-kottbusser-tor-in-berlin-ge- fasst/28011792.html. (aufgerufen 17.02.2022)
2 Tödliche Schüsse am Kottbusser Tor: Polizei fahndet nach Intensivtäter. (5. September 2016). B.Z.. https://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain- kreuzberg/toedliche-schuesse-am-kottbusser-tor-polizei-hat-erste-hinweise. (aufgerufen 17.02.2022)
3 Interview mit Focus Money. (November 2003). Zitiert nach: focus.de http://www.focus.de/politik/deutschland/wowereits-berlin-slogan_nid_37712. html; siehe auch: tagesspiegel.de http://www.tagesspiegel.de/berlin/archiv/04.12.2003/873123.asp
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